Mahnwache am 07.10.2022

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Im Folgenden die Beiträge dieser Mahnwache

Doris:

Guten Abend. Ich begrüße Sie und euch im Namen der Friedensinitiative Schorndorf zu unserer 24. Mahnwache gegen den Krieg. Vielen Dank an alle, die gekommen sind.

Jeden Tag, wenn ich die Zeitung aufschlage, finde ich Nachrichten zum Krieg in der Ukraine. Manchmal schon auf der Titelseite mit einer dicken Überschrift, manchmal nur eine kurze Meldung im Innenteil. Vergeblich suche ich täglich nach einer guten Nachricht, die Hoffnung machen könnte auf ein Ende des Krieges. Vergeblich suche ich auch nach Stimmen, die von der vorherrschenden Haltung abweichen, die sich kritisch äußern und zu einem Waffenstillstand aufrufen. Vergeblich habe ich außerdem nach einem Bericht über den bundesweiten dezentralen Aktionstag der Friedensbewegung am 1. Oktober gesucht, an dem es immerhin in 30 deutschen Städten Demonstrationen gegeben hat.

Beim heutigen Blick in die Zeitung sind mir gleich fünf Meldungen begegnet:

  1. Die Nachricht über Wladimir Putins 70. Geburtstag. Niemand erwartet Glückwünsche. Kritik ist auch an diesem Tag durchaus angebracht. Aber der Sarkasmus und der Spott in dem Artikel, mit dem der Sieg des Westens über Putin prophezeit wird, ist dennoch kein guter Stil.
  2. Die Nachricht mit der Überschrift „EU-Parlament fordert Panzer für die Ukraine“. Über 500 Abgeordnete des Europaparlaments stimmten für eine Ausweitung der Militärhilfe für die Ukraine. Diese würde dazu beitragen, die Dauer des Krieges zu verkürzen. Eine Behauptung, die durch nichts zu beweisen ist.
  3. Die Nachricht über das Treffen der Regierungschefs aus 44 europäischen Ländern in Prag. Ich lese ein Zitat des tschechischen Regierungschefs: „Wir wissen alle in unserem Herzen, dass die Ukraine gewinnen wird, weil die Wahrheit auf ihrer Seite ist“. Ich frage mich: Was ist Wahrheit in diesem Krieg?
  4. Die Nachricht mit der Überschrift „Ukraine soll Attentat genehmigt haben“. US-Geheimdienste haben herausgefunden, dass die ukrainische Regierung den Mordanschlag auf die Russin Darja Dugina genehmigt hat.
  5. Die Nachricht über eine Äußerung der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Ukraine-Krieg. Sie warnte davor, russische Drohungen als Bluff abzutun. Sie sagte, der Angriff auf die Ukraine sei eine tief greifende Zäsur gewesen, und zwar eine, „bei der wir alle gut beraten sind, Worte ernst zu nehmen und sich ernsthaft mit ihnen auseinanderzusetzen und sie nicht von vornherein als Bluff einzustufen“. Sie betonte erneut, dass ein dauerhafter Friede in Europa nur unter Einbeziehung Russlands erfolgen könne. Diese Äußerung stammt nicht von der Friedensbewegung, sondern von Angela Merkel, die Russland und seinen Präsidenten mit Sicherheit gut kennt.

Lassen wir uns also nicht entmutigen, die Haltung unserer Regierung und der Presse kritisch zu hinterfragen, auch wenn wir in der Minderheit sind. Wir sind auf der Suche nach Wahrheit. Es gibt keine einfachen Antworten. Aber vereinfachendes Schwarz-Weiß-Denken wird ihr in keinem Fall gerecht.

Wir hören jetzt Eva Hartmann, die sich zu einem weiteren und ganz anderen Aspekt Gedanken gemacht hat. Sie ist Sprecherin der Lokalen Agenda Schorndorf, und sie ist u.a. engagiert in der Erlassjahr-Kampagne.

Eva Hartmann:

Ich arbeite in einer kleinen zivilgesellschaftlichen Organisation mit. Sie nennt sich erlassjahr.de mit dem Untertitel „Entwicklung braucht Entschuldung“. Das entwicklungspolitische weltweit vernetzte Bündnis setzt sich für eine gerechte Gestaltung der globalen Finanzbeziehungen ein. Das Bündnis wird von mehr als 500 Gruppen getragen. Dazu gehören Kirchengemeinden, Weltläden, zivilgesellschaftliche Gruppen wie Südwind oder attac. In Schorndorf gehören der Weltladen und die ev. Stadtkirchengemeinde dazu.

erlassjahr.de geht aus der „Erlassjahr 2000-Bewegung“ hervor. Sie setzte 1999 den Schuldenerlass für die ärmsten hoch verschuldeten Länder durch. Die freigewordenen Mittel flossen in die Armutsbekämpfung. Das war ein großer Erfolg. Doch bis heute sind verschuldete Staaten den willkürlichen Entscheidungen der Gläubiger ausgesetzt. erlassjahr.de fordert deshalb die Schaffung eines fairen und transparenten Verfahrens zur Lösung von Schuldenkrisen. Bisher ist hier der Erfolg ausgeblieben, obwohl die derzeitige deutsche Regierung die Forderung in den Koalitionsvertrag aufgenommen hat.

Heute beobachten wir eine ähnliche Entwicklung der Verschuldung wie in den 1980er Jahren. Wegen der Nullzinspolitik im Globalen Norden kommen ärmere Länder derzeit relativ leicht an Kredite. Sie sind aber vergleichsweise teuer. Zusätzlich müssen die Folgen der bekannten multiplen Krisen bezahlt werden. Daher rutschen immer mehr Länder in eine Schuldenfalle. Nach der jüngsten Erhebung von erlassjahr.de sind derzeit 135 von 148 Länder des Globalen Südens kritisch verschuldet. Etliche können ihren Schuldendienst bereits jetzt nicht mehr leisten.

Doch was hat das alles mit der Ukraine zu tun?

Der von Russland ausgelöste Krieg trifft die ukrainische Wirtschaft und die Bevölkerung in extremer Weise. Das Ende des Krieges ist zwar noch nicht absehbar. Es ist dennoch wichtig, sich bereits jetzt damit zu befassen, wie das Land wieder aufgebaut werden und zu einer gewissen Normalität zurückfinden kann.

Dafür ist Geld, viel Geld nötig – Medienberichte nennen 100, andere über 500 Mrd. Dollar. Dieses Geld kann die Ukraine nicht aufbringen. Zudem war das Land bereits vor dem Krieg dem Ausland gegenüber hoch verschuldet. Während des laufenden Krieges erhält die Ukraine zwar von vielen Teilen der Welt umfangreiche Unterstützung. Das meiste davon sind Schenkungen. Doch daneben werden auch während des Krieges Kredite vergeben, zum Beispiel von der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds. diese müssen mit Zinsen zurückgezahlt werden. Wie soll das gehen – ein schwer zerstörtes Land aufbauen und daneben Kredite zurückzahlen? Die versprochene Wiederaufbauhilfe durch die EU und andere westliche Akteure nach dem Krieg dürften da nicht reichen.

An dieser Stelle hilft ein Rückblick auf unsere eigene deutsche Geschichte. Die kriegszerstörte Bundesrepublik konnte in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg die öffentlichen Schulden im Ausland nicht bedienen. Etwa die Hälfte – 13,5 Mrd. Deutsche Mark – waren Schulden, die zustande gekommen waren, weil Deutschland seine Reparationen aus dem Ersten Weltkrieg (Stichwort: Versailler Vertrag) bezahlen musste. Der andere Teil der Schulden stammte aus der Wirtschaftshilfe nach 1945, bekannt als Marshallplan, die zum großen Teil die Vereinigten Staaten leistete. Doch auch vielen anderen Staaten gegenüber hatte die BRD – wenn weit geringere Schulden.

Obwohl Deutschland den Zweiten Weltkrieg verantwortete, war der Wille der einstigen Kriegsgegner da, dem Land auf die Beine zu helfen. 1953, also vor fast 70 Jahren, unterzeichneten 21 Staaten und die BRD in London ein weltweit einmaliges Abkommen. Es heißt deshalb heute auch „Londoner Schuldenabkommen“.

Die wichtigsten Ergebnisse:

  • Die Vor- und Nachkriegsschulden wurden um 50 Prozent gekürzt.
  • Von den verbleibenden Schulden (etwa 14,5 Mrd.) blieb ein Teil (2,5 Mrd.) zinsfrei,
  • Der Rest konnte mit einer langen Laufzeit und relativ niedrigen Zinsen (4,5 – 5 %) zurückbezahlt werden.
  • Besonders wichtig ist, dass die BRD ihren Schuldendienst nur aus den laufenden Einnahmen begleichen musste – also ohne dass eine erneute Kreditaufnahme nötig wurde. Im Notfall war vorgesehen, den Schuldendienst zeitweilig auszusetzen.

Das Abkommen beinhaltete also einen weitreichenden echten Schuldenerlass. Dieser ist heute hoch verschuldeten Staaten verwehrt, obwohl sich derzeit sehr viele Staaten des Globalen Südens in einer weit schwierigeren Situation befinden als es die BRD nach dem Zweiten Weltkrieg war.

Wie ging es weiter? Die BRD konnte ihre Schulden nach dem Abschluss des Abkommens problemlos bedienen. Das Londoner Schuldenabkommen wird heute als ein Grundstein für den wirtschaftlichen Aufschwung der BRD gesehen.

Eine Frage drängt sich natürlich auf. Wieso verhielten sich Siegermächte gegenüber ihrem ehemaligen Feind so generös? Dies ist nur auf dem Hintergrund des beginnenden Kalten Krieges verständlich. Die West-Alliierten, die gleichzeitig die entscheidenden Gläubiger waren, wollten West-Deutschland zu einem wirtschaftlich erfolgreichen Gegenmodell zum Kommunismus machen. Das ist gelungen. Der Preis für Deutschland war allerdings eine bis heute währende Abhängigkeit von den USA.

Zurück zur Ukraine. Mich treibt die Frage um, weshalb das Londoner Schuldenabkommen so gut wie nicht thematisiert wird – weder im parteipolitischen Kontext, noch in der Friedensbewegung. Es geht nicht darum, das Abkommen 1 : 1 zu imitieren. Es zeigt aber, dass es möglich ist, tragfähige Lösungen zu finden, und zwar für beide kriegsführenden Seiten – wenn der Wille dazu vorhanden ist.

Auch hier gilt: „Entwicklung braucht Entschuldung.“ Verhandlungen auf Augenhöhe sind nötig statt Wettrüsten.

Doris:

Wir werden jetzt  wieder 5 Minuten schweigen. Wir denken an die Opfer des Krieges in der Ukraine und an die Opfer der Kriege in anderen Ländern. An die Menschen, die im Krieg  verletzt wurden an Leib und Seele. An alle, die ihr Leben verloren haben, seien es Soldaten oder Zivilisten. An alle, die ihre Heimat verlassen mussten. An die geschundene Natur, an die zerstörte Kultur. An alle, die sich gegen den Krieg einsetzen. Mögen die Politiker auf beiden Seiten endlich zur politischen Vernunft zurückkehren und eine weitere Eskalation verhindern.

Doris:

Kürzlich habe ich ein Buch aus dem Jahr 1984 wieder entdeckt mit dem Titel „Warum haben wir aufeinander geschossen?“ Es stammt von Heinrich Böll, im Zweiten Weltkrieg Obergefreiter an der Ostfront, und Lew Kopelef, geb. 1912 in Kiew, im Krieg sowjetischer Major. Beide haben später Freundschaft geschlossen und sich für eine friedliche Koexistenz der Völker eingesetzt. Auf der Rückseite des Buchs steht folgendes Zitat von Lew Kopelew:

„Die Kriege werden von Staatsmännern, von der Regierung vorbereitet, provoziert und angezettelt. Aber sterben müssen Millionen gewöhlicher Menschen. Daran müssen wir immer denken. Das einzige, was wir dagegen machen können ist, von dem was war, und von dem was ist, die Wahrheit zu erzählen“.

Ich möchte noch folgendes ansagen, bevor wir unsere Mahnwache beenden:

  • Am Montag, 10. Oktober um 18.00 Uhr findet das ökumenische Friedensgespräch in der Stadtkirche statt.
  • Unsere nächste Mahnwache ist am kommenden Freitag, 14.10.22 um 18.00 Uhr auf dem Mittleren Marktplatz.

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