Doris:
Mein Name ist Doris Kommerell von der Friedensinitiative Schorndorf. Vielen Dank allen, die gekommen sind.
Heute vor genau 8 Wochen haben wir uns hier zum ersten Mal zu einer Mahnwache versammelt. Es waren sehr viele Menschen gekommen, und wir alle waren schockiert vom russischen Überfall auf die Ukraine. Die meisten von uns dachten damals, dass dieser Krieg wegen der russischen Übermacht wahrscheinlich nicht lange dauern könnte. Inzwischen gibt es kaum noch Hoffnung auf ein baldiges Ende der Kämpfe. Wir sind zermürbt von den schrecklichen, verwirrenden und oft widersprüchlichen Nachrichten. Angst und Wut wechseln sich ab.
Wir sehen täglich Bilder von verzweifelten Menschen, von verletzten oder getöteten Menschen, von zerstörten Städten.
Wir fragen uns, was ist die Wahrheit in diesem Krieg? Was kann man wirklich glauben? Was wird sich irgendwann einmal als Kriegspropaganda erweisen?
Wir ahnen, es gibt wahrscheinlich Kriegsverbrechen auf beiden Seiten, wie in jedem Krieg.
Wir nehmen wahr, wie sowohl Politiker als auch Menschen in unserer Umgebung ihre bisherigen Grundsätze über Bord werfen. Wer sich bisher für Abrüstung und gegen Rüstungsexporte ausgesprochen hat, drängt nun auf Aufrüstung und die Lieferung sogenannter schwerer Waffen mitten ins Kriegsgebiet.
Wir hören, wie Politiker einander beschuldigen und beleidigen. Auch, wenn sie eigentlich auf derselben Seite stehen. Ukrainische Politiker, die den deutschen Bundespräsidenten brüskieren, die dem Bundeskanzler unterlassene Hilfeleistung vorwerfen. Deutschen Politikern, die sich in der Vergangenheit um Verständigung mit Russland bemüht haben, wird dies als Fehler vorgehalten.
Wir lesen in der Zeitung, dass Politikerinnen und Politiker der Grünen die Ukraine nicht etwa auffordern, einen Waffenstillstand anzustreben, sondern bis zum Sieg weiter zu kämpfen. Man muss nicht Pazifist sein, um dies unerträglich zu finden.
Wir überlegen immer wieder: Hätte dieser Krieg vermieden werden können? Und: was müsste geschehen, damit die Kämpfe endlich aufhören und Friedensverhandlungen beginnen?
Detlef Beune von der Friedensinitiative Schorndorf wird uns nun seine Gedanken dazu vortragen.
Detlef:
Es ist traurig, dass wir uns heute wieder hier versammeln müssen. Die Hoffnungen auf einen schnellen Frieden in der Ukraine scheinen zerstört.
Um es ganz zu Beginn noch einmal festzuhalten: Der Angriff von Russland auf die Ukraine ist zu verurteilen: Er ist völkerrechtswidrig, weil laut UNO Kriege nur zur Selbstverteidigung oder nach vorherigem Mandat durch die UNO geführt werden dürfen, beides war hier nicht gegeben.
Wer auf diplomatischem Wege dort einen Frieden erreichen will, sollte sich aber auch mit folgenden Thesen auseinandersetzen
• Ohne permanente NATO-Ost-Erweiterung hätte es diesen Krieg wahrscheinlich nicht gegeben.
• Hätte die Ukraine sich an das Minsk-II-Abkommen gehalten, zu dem sie sich ja selbst mit verpflichtet hatte, wäre es zu diesem Krieg wahrscheinlich nicht gekommen. Die Ukraine weigerte sich bis zum Schluss, die dort festgeschriebenen Verhandlungen mit den Separatisten-Regionen Lugansk und Donezk aufzunehmen.
• Ohne die gewaltige Aufrüstung der Ukraine mit Waffen durch die USA und Großbritannien im Jahre 2021 wäre es möglicherweise zu diesem Krieg nicht gekommen.
Nein, das alles rechtfertigt nicht den Krieg Russlands gegen die Ukraine. Denn: „Krieg ist nicht mehr die ultima ratio, sondern die ultima irratio.“ – das sagte Willy Brandt am 11.12.1971 in seiner Rede zur Verleihung des Friedensnobelpreises. „Ultima irratio“, das heißt auf Deutsch: Krieg ist die allerletzte Unvernunft!
Aber: Diese Thesen zeigen auch, in welcher Richtung die deutsche Bundesregierung Politik machen könnte, um in der Ukraine möglichst schnell einen Waffenstillstand und anschließen einen tatsächlichen Frieden zu erreichen. Stellen wir uns einfach einmal vor, unser Bundeskanzler Scholz würde im Bundestag folgende Rede halten (Vorsicht: Das Folgende ist nur ein Traum von mir, also leider nicht real).
Sehr geehrte Damen und Herren,
der völkerrechtswidrige Krieg, den Russland in der Ukraine führt, dauert nun schon viel zu lange. Täglich sterben Menschen oder werden verletzt, Wohnhäuser und Krankenhäuser werden zerstört, immer mehr Menschen fliehen aus diesem Land. Die Gefahr, dass aus diesem noch begrenzten Krieg auch ein 3. Weltkrieg werden könnte, darf man heute leider nicht mehr leugnen.
Deshalb habe ich mich jetzt zu folgenden Schritten entschlossen, über die ich auch den Präsident der Ukraine, Herrn Selenskyj und den Präsidenten Russlands, Herrn Putin, informiert habe.
• Meine Ankündigung, den Rüstungshaushalt in Deutschland in diesem Jahr um 100 Milliarden Euro zu erhöhen, nehme ich zurück. Stattdessen biete ich ein fünfjähriges Moratorium unserer Rüstungsausgaben an.
• Deutschland wird in den nächsten 5 Jahren keiner Erweiterung der NATO mehr zustimmen, weder die Ukraine noch Finnland oder Schweden dürfen jetzt Mitglied der NATO werden.
• Als Gegenleistung erwarte ich, dass unverzüglich wieder ernsthafte Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland um eine friedliche Lösung aufgenommen werden. Ich stelle mich auch gerne als Vermittler bei solchen Gesprächen zur Verfügung.
Den Zeitraum von fünf Jahren habe ich bewusst gewählt. Kurzfristig geht es sicher darum, einen Waffenstillstand in der Ukraine zu erreichen. Längerfristig muss auch eine dauerhafte Lösung für die Ukraine-Krise gefunden werden. Nicht nur das. Wir brauchen eine neue Friedensordnung in ganz Europa, in die auch Russland mit eingeschlossen werden muss. Das Ziel einer solchen Friedensordnung muss es sein, dass jedes Land in ganz Europa sich sicher sein kann, nicht irgendwann aus irgendwelchen Gründen militärisch angegriffen zu werden.
Momentan scheint es utopisch, dass es zu solch einer Rede des Bundeskanzlers kommen wird. Aber: Eine solche Neuorientierung der deutschen Politik wäre sehr wichtig. Übrigens: In der NATO kann nur dann ein neues Mitglied aufgenommen werden, wenn dem alle bisherigen Mitglieder der NATO zustimmen. Deutschland hat hier also sowohl einen großen Einfluss als auch eine große Verantwortung.
Immerhin hat der Bundeskanzler am 22.04.2022 einige Äußerungen gemacht, die in die richtige Richtung gehen: Olaf Scholz hat es als oberste Priorität seiner Ukraine-Politik bezeichnet, ein Übergreifen des Krieges auf die Nato zu vermeiden. „Es darf keinen Atomkrieg geben“, sagte der Kanzler in einem am Freitag veröffentlichten Interview des „Spiegel“. „Ich tue alles, um eine Eskalation zu verhindern, die zu einem dritten Weltkrieg führt.“
Im Augenblick wird auch in den Medien (ob Zeitungen oder ARD und ZDF) in einem primitiven Schwarz-Weiß-Denken berichtet. Die USA, die NATO, die Ukraine, das sind die Guten: Russland und im Hintergrund die Chinesen, das sind die Bösen. Solche noch aus dem kalten Krieg nach dem zweiten Weltkrieg stammende Berichterstattung ist nur geeignet, den Hass zwischen den Menschen anzustacheln, ist aber mit Sicherheit nicht in der Lage, Frieden zu schaffen.
Egon Bahr, der zusammen mit Willy Brandt Architekt der erfolgreichen Entspannungspolitik in Deutschland noch zu Zeiten des Ost-West-Konfliktes war, wandte sich übrigens schon damals gegen eine primitive Unterteilung der Welt in Gut und Böse: „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.“ Nur eine Politik, die die unterschiedlichen Interessen von verschiedenen Staaten anerkennt und hier nach einem für alle Seiten tragbaren Interessenausgleich sucht, kann also in der Welt den Frieden sichern.
Doris:
Wir werden jetzt wieder 5 Minuten schweigen. Wir denken an die Opfer des Krieges in der Ukraine und an die Opfer der Kriege in anderen Ländern. An die Menschen, die im Krieg verletzt wurden an Leib und Seele. An alle, die ihr Leben verloren haben, seien es Soldaten oder Zivilisten. An alle, die ihre Heimat verlassen mussten. An die geschundene Natur, an die zerstörte Kultur. An alle, die sich gegen den Krieg einsetzen. Möge die Hoffnung auf Frieden lebendig bleiben.
Doris:
Ich lese ein Gedicht von Mascha Kaleko, geschrieben während des 2. Weltkriegs:
Zeitgemäße Ansprache
Wie kommt es nur, dass wir noch lachen,
dass uns noch freuen Brot und Wein,
dass wir die Nächte nicht durchwachen,
verfolgt von tausend Hilfeschrein?
Habt ihr die Zeitung nicht gelesen,
saht ihr des Grauens Abbild nicht?
Wer kann, als wäre nichts gewesen,
in Frieden nachgehn seiner Pflicht?
Klopft nicht der Schrecken an das Fenster,
rast nicht der Wahnsinn durch die Welt,
siehst du nicht stündlich die Gespenster
vom blutig-roten Trümmerfeld?
Des Tags, im wohldurchheizten Raume:
Ein frierend Kind aus Hungerland,
des Nachts, im atemlosen Traume:
ein Antlitz, das du einst gekannt.
Wie kommt es nur, dass du am Morgen
Dies alles abtust wie ein Kleid
Und wieder trägst die kleinen Sorgen,
die kleinen Freuden, tagbereit.
Die Klugen lächeln leicht ironisch;
Ca cèst la vie. Des Lebens Sinn.
Denn ihre Sorge heißt, lakonisch:
Wo gehen wir heute Abend hin?
Und nur der Toren Herz wird weise:
Sieh, auch der große Mensch ist klein.
Ihr lauten Lärmer, leise, leise.
Und lasst uns sehr bescheiden sein.
Doris:
Ich möchte noch folgendes ansagen, bevor wir unsere Mahnwache beenden:
• In der Mitte liegen noch Briefe aus, die man an die 3 Bundestagsfraktionen schicken kann. Bitte nehmen Sie sich welche mit.
• Am Mittwoch, den 04.05.22 gibt es um 17.00 Uhr im Familienzentrum Schorndorf einen Vortrag von Dr. Andreas Raether, Chefarzt am Klinikum Schloss Winnenden. Er spricht zu dem Thema: „Krisen und Kriege: wenn uns die Bilder nicht verlassen wollen“. Veranstalter ist das Seniorenforum Schorndorf.
• Unsere nächste Mahnwache ist heute in einer Woche, am Freitag, 29.04.
Jetzt ist noch Zeit zum Austausch untereinander. Wir wünschen Ihnen dann einen guten Nachhauseweg.