Mahnwache vom 10.11.2023

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Es folgen die Beiträge dieser Mahnwache zum Nachlesen

Doris:

Guten Abend. Ich begrüße Sie und euch im Namen der Friedensinitiative Schorndorf zu unserer Mahnwache gegen den Krieg. Vielen Dank allen, die gekommen sind. Heute wird Mona Kirschner einen Text für uns vortragen. Ich gebe das Mikrofon gleich weiter.

Mona:

Die toten Winkel der Empathie
Oktober 2023, 15:52 Uhr
Wie umgehen mit dem Leid, der Gewalt und der tiefen Unsicherheit dieser Tage? Die Antwort kann nicht sein, im Namen der einen den anderen die Menschlichkeit zu verweigern. Sie muss in maximaler Zugewandtheit liegen.
Kolumne von Carolin Emcke  

Im Anfang ist nicht das Wort. Im Anfang ist die Sprachlosigkeit. Vielleicht muss es so beginnen. Mit der blanken Not, das Gemetzel jüdischen Lebens in seiner ganzen Gnadenlosigkeit zu erfassen. Mich zumindest hat es zuerst nur verstummen lassen. Die Worte werden gewogen und für zu leicht befunden. Unverfügbar alle Begriffe, die Sinn ergeben könnten in dieser Sinnlosigkeit. Ich schaue staunend auf das Tempo, mit dem andere zu reagieren wissen. Bei mir ist alles aus den Fugen. Ich misstraue Sätzen, die passend klingen, weil es mir nicht einleuchten will, wie es dafür eine passende Sprache sollte geben können. Ich misstraue öffentlichen Formeln, die alles richtig machen wollen, aber dann doch nur wie eilig dahinbehauptete Anteilnahme ohne Einfühlung klingen. Echte Anteilnahme ist nicht kostenlos zu haben. Sie tut weh oder sie ist keine.

Aber natürlich gibt es Sprache. „Das Unsagbare, mit dem man uns ständig in den Ohren liegt, ist nur ein Alibi“, schrieb Jorge Semprun in seinen Erinnerungen an Buchenwald, „Schreiben oder leben“, „oder Faulheit“. Und so, tapsend, stockend, verzweifelt, suche ich nach Worten und ziehe sie, eines nach dem anderen, wie brüchige Perlen auf einen Faden. Vielleicht muss das erst eingestanden werden. Diese Langsamkeit im Verstehen, also im wirklichen Verstehen, was da geschehen ist: nicht nur die entfesselte Gewalt selbst, nicht nur die Anzahl der Toten und Verschleppten aus Kfar Aza, Be’eri oder Nahal Oz, sondern was sie anrichtet.

Den jüdischen Schmerz durchziehen verschiedene Zeitlichkeiten. Da ist der aktuelle, der seit dem Massaker die Angehörigen und die Freundesfamilien der Opfer martert, aber da ist, damit verkoppelt, auch der alte, erinnert oder vererbt, das Trauma der Shoah, das aufbricht. Überall um mich herum, in Israel bei den jüdischen Freundinnen und Freunden und hier bei uns, ist da die bittere Erfahrung der Schutzlosigkeit und des Alleingelassenseins. Jeder weitere Anschlag auf eine Synagoge, jede weitere antisemitische Verletzung wiederholt und vertieft die Verzweiflung, nirgends heimisch, nirgends sicher zu sein.

Gespräche reißen auf einmal ab, wenn es um die falschen Opfer geht
Wir wissen alle nicht, was nun geschieht, wohin die Gewalt noch ausstrahlen und sich steigern wird, was aus den Verschleppten wird, wie die humanitäre Lage in Gaza weiter zerrüttet, wie viel ziviles Leben noch versehrt und zerstört wird. Aber wir wissen, dass es nicht gehen wird ohne Anerkennung der jüdischen Erfahrung der Schutzlosigkeit – und der historischen Ursachen dafür.

Es gibt Risse im „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“, wie Hannah Arendt es einmal genannt hat, und wir werden alle Zugewandtheit, allen Mut, alle Differenzierung brauchen, um die losen Fäden wieder aufzunehmen. Wir müssen den Stoff der Humanität, der uns miteinander verbindet als gleichwertige Personen, wieder weben. Im Moment sind da nur Fetzen. Sie zeigen sich, jeden Tag, in Gesprächen als Lücken. Wenn auf einmal etwas abbricht, wenn auf einmal eine Reaktion ausbleibt, wenn das Gegenüber verstummt, weil sie oder er auf das Leid der einen oder anderen Seite nicht reagieren will.

Es gibt tote Winkel der Empathie, Zonen, in die hinein nicht gedacht oder gefühlt werden will, weil es um Menschen geht, die als Feinde, als Fremde, als bloßes Kollektiv, nicht als Individuen gedacht werden. Ich habe eine enge Freundin im Gazastreifen. Wir kennen uns seit zwanzig Jahren. Während ich dies schreibe, weiß ich nicht, ob sie noch lebt. Ob sie von Bomben getötet wurde oder ohne Essen und Wasser eingeht. Alle meine jüdisch-israelischen Freunde fragen nach ihr, bangen mit mir und hoffen auf ein Lebenszeichen. Alle. Jeden Tag.

Aber hier, in Deutschland, wenn ich Freundinnen von ihr erzähle, setzt es auf einmal aus. Keine Nachfrage. Kein Bedauern. Bloß eine stumme Lücke. Hätte es das auch gegeben, wenn ich von einer jüdischen Freundin erzählt hätte? Ist das palästinensische Leiden bereits eingepreist? Haben sich alle daran gewöhnt? Oder gilt die Anteilnahme an der Not der Zivilisten in Gaza als Absage an Anteilnahme an jüdische Trauer? Das sind falsche Gegensätze. Es ist, als ob nicht mehr hingefühlt werden kann, sobald das Wort „Palästinenser“ fällt, als ob es innerlich eine Barriere gäbe. Auch für Palästinenser gibt es den Schmerz nicht nur im Singular, auch für sie wiederholt sich in der Gegenwart eine Erfahrung der Vergangenheit. Auch das braucht wirkliches Verstehen.

Wir können und dürfen nicht verhandeln, für wen Menschenrechte gelten
Universalistische Empathie ist eine ethische Praxis, die geübt sein will. Sie lässt sich nicht nur behaupten, sie muss sich beweisen. Allen gegenüber. Sie kennt keine Lücken. Empathie, wenn sie humanistisch sein will, kann nicht an identitäre Bedingungen geknüpft werden, jene Empathie, die sich nur denen einfühlen will, die einem ähnlich sind oder vertraut, ist ethisch verstümmelt. Barmherzigkeit, so erzählen es uns die biblischen Geschichten, erweist sich nicht nur denen gegenüber, die so aussehen oder sprechen wie wir selbst. Sondern sie ist voraussetzungslos. Sie gilt denen in Not, denen, die ein Antlitz haben. Menschenrechte sind Menschenrechte. Wir können und dürfen nicht erst verhandeln, wer alles als Mensch zählt.

„Anger is a bitter lock. But you can turn it“, schrieb die kanadische Dichterin Anne Carson in einem ihrer Verse. Das ist die Aufgabe, die sich uns, denen, die sich dem Schreiben verschrieben haben, aber auch allen anderen, in den Kommunen, in den Schulen, in jeder Familie stellt. Wir müssen den Zorn öffnen, der uns verhärtet und verschließt. Wer Ressentiment mit Ressentiment beantwortet, verliert sich selbst. Das ist, was die Gewalttäter sich wünschen: dass wir uns von allen humanistischen Normen verabschieden. Das ist die Einladung des Hasses, sich ihm anzuverwandeln, die wir ausschlagen müssen. Wir müssen einander zuhören, wir müssen achten auf das, was wirklich gesagt wird und was nur unterstellt wird, was vorgeblich gemeint war, wir müssen differenzieren und präzise Grenzen setzen, was nicht geduldet und ertragen werden kann. Nur das rettet unsere Humanität.

Doris:
Wir werden jetzt wieder 5 Minuten schweigen. Wir trauern um die getöteten Menschen in Israel und im Gazastreifen. Wir trauern um die Opfer des Ukrainekriegs, seien es Zivilisten, oder Soldaten auf beiden Seiten. Wir trauern um die Opfer all der anderen gleichzeitig stattfindenden Kriege, die oft vergessen werden. Wir trauern um die Opfer der menschengemachten und anderen Naturkatastrophen. Und wir trauern um die verloren gegangene politische Vernunft und unsere Hoffnung auf Frieden. Mögen sie nicht endgültig zerstört sein.

Doris:
Ich lese einige Sätze aus einer Rede des früheren israelischen Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin. Er hielt diese Rede am 4. November 1995 bei einer großen Friedenskundgebung in Tel Aviv kurz vor seiner Ermordung durch einen rechtsextremen Israeli.

„Ich möchte gerne jedem Einzelnen von euch danken, der heute hierhergekommen ist, um für Frieden zu demonstrieren und gegen Gewalt. Diese Regierung, der ich gemeinsam mit meinem Freund Shimon Peres das Privileg habe vorzustehen, hat sich entschieden, dem Frieden eine Chance zu geben – einem Frieden, der die meisten Probleme Israels lösen wird. […] Der Weg des Friedens ist dem Weg des Krieges vorzuziehen. Ich sage euch dies als jemand, der 27 Jahre lang ein Mann des Militärs war.“

Bevor wir unsere Mahnwache beenden, möchte ich noch folgendes ansagen:

  • Morgen, am Samstag den 11. 11. 23 ist auf dem Schlossplatz in Stuttgart um 11:55 Uhr eine „Kundgebung für Frieden und eine aktive Sicherheitspolitik“ mit Heike Hänsel, Kultur des Friedens, und dem katholischen Theologen Paul Schobel. Veranstalter ist der Friedenstreff Stuttgart-Nord.
  • Am 25.11. ruft die Organisation „Nie wieder Krieg“ zu einer bundesweiten Friedensdemonstration in Berlin auf, zusammen mit einer sehr große Zahl an Organisationen und Einzelpersonen. Wir werden noch Näheres berichten. Es gibt im Moment 25 Busse aus verschiedenen Städten nach Berlin, leider bis jetzt keinen aus Stuttgart oder Umgebung.
  • Vom 27.11. – 1.12. findet die Zweite Konferenz der Vertragsstaaten des Atomwaffenverbotsvertrags in New York statt. Im Vorfeld wurden am 6. 11.  von den Organisationen IPPNW und anderen 121 626 Unterschriften für den Beitritt Deutschlands zum UN-Atomwaffenverbot an das Bundesaußenministerium überreicht. Wer die Forderung unterstützen möchte, dass Deutschland wenigstens als Beobachter in New York teilnehmen soll, kann dazu auf der Homepage des Netzwerk Friedenskooperative (friedenskooperative.de) eine Petition unterzeichnen.
  • Unsere nächste Mahnwache ist heute in einer Woche, am 17.11. um 18.00 Uhr wieder hier auf dem Mittleren Marktplatz. Ingrid Bolay wird den Redebeitrag übernehmen.

 

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