Mahnwache vom 20.06.2025

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Es folgen die Redebeiträge dieser Mahnwache:

Martin:

Guten Abend, ich begrüße euch und Sie zu unserer 141. Mahnwache gegen den Krieg und für den Frieden. Schön, dass ihr gekommen seid.

Ich hatte für heute ein besonderes Thema vorbereitet, doch gehen meine – und sicher auch eure – Gedanken derzeit ständig in den Nahen Osten und zu der Katastrophe, die dort angerichtet wird.

Daher will ich zunächst den Leserbrief vorlesen, den ich am Mittwoch an die Schorndorfer Nachrichten geschickt habe. Es ist die Reaktion auf eine kurze Notiz auf der Frontseite am selben Tag mit dem Titel: Trump will Irans Atomprogramm „echt“ beenden.

Gaza, Westbank, und jetzt Iran. Die Nachrichten sind fast nicht mehr auszuhalten: Völkermord, illegale, gewalttätige Besetzung, völkerrechtswidriger Angriffskrieg, der die ganze Region und möglicherweise auch viel mehr in Aufruhr bringt. Netanjahu und seine radikalen Anhänger sind dabei, mittelfristig auch ihr eigenes Land zu zerstören, gleichzeitig sind sie die „erfolgreichsten“ Antisemiten.

Und unsere Regierung stärkt den Verbrechern den Rücken. Sie zeigt sich „besorgt“ und ist gleichzeitig der zweitgrößte Waffenlieferant. Daher ist sie mitverantwortlich für die wachsende Katastrophe im Nahen Osten. Nach der Zeitungsmeldung scheint Friedrich Merz zufrieden zu sein, dass Israel „die Drecksarbeit“ macht, – unfassbar!

Der Krieg dort hat eine hundertjährige Vorgeschichte. Es gibt nur komplizierte, langwierige Lösungen, doch Netanjahu und seine Unterstützer im In- und Ausland machen mit ihren zerstörerischen Aktionen alles noch viel schlimmer. Terror kann doch nicht mit Terror behoben werden. Krieg bringt keinen Frieden. Nach dem Grundgesetz hat unsere Regierung die Verpflichtung, für Frieden zu sorgen. Wenn wir, die Kirchen, Gewerkschaften, NGOs, Verbände, Parteien sie bei ihrer unverantwortlichen Politik nicht stoppen, sind auch wir mitverantwortlich für die Katastrophe, die sich im Nahen Osten abspielt.

Soweit mein Leserbrief. Anstatt 5 Minuten Schweigen müssten wir eigentlich den ganzen Tag schreien.

Und jetzt will ich doch eure Gedanken in eine andere Region und in die Anfangszeit des Ukrainekriegs lenken.

„20.000 – vielleicht auch Hunderttausende – ukrainische Kinder wurden brutal, gewaltsam nach Putins Angriffskrieg vom russischen Militär verschleppt. Nur wenige Hundert sind zurück gekommen.“ Es gibt wohl kaum einen Zeitungsleser oder Fernsehzuschauerin, die sich nicht an diese Schreckensmeldung aus dem Frühjahr 2022 erinnert. Sie ist immer noch sehr präsent. In Diskussionen wird oft darauf hingewiesen. Hier zeigt sich, wie abgrundtief die satanische Bosheit Putins ist. Und wo die Verschleppung und „Russifizierung“ Zigtausender oder gar Hunderttausender ukrainischer Kinder im Gespräch auftaucht, geraten die Emotionen so stark in Wallung, dass keine rationale Diskussion mehr möglich ist. Wer so etwas macht, wird auch in drei Jahren mit seinen Panzern vor Berlin stehen. Da hilft nur massive Aufrüstung, und wegen der hohen Kosten müssen eben die Finanzierungen anderer Bereiche zurückgefahren werden, Bildung, Gesundheit, Soziales, Umwelt, Klima etc. Weil die Bundeswehr mindestens 60.000 zusätzliche Soldaten braucht, muss die Wehrpflicht wieder eingeführt werden, natürlich auch für Frauen. Alle Bereiche des öffentlichen und privaten (!) Lebens müssen kriegstüchtig werden.

Am 4. Juni erschien in den Nachdenkseiten ein Artikel, der mich sehr beschäftigte. Man kann ihn im Internet leicht finden. https://www.nachdenkseiten.de/?p=133978  Die Überschrift lautet: Verhandlungen in Istanbul: Wie das Narrativ von den entführten Kindern in sich zusammenfiel.

Die Basis dieser Aussage ist eine Liste mit 339 Namen von Familien, die immer noch ihre Kinder suchen, die in den Wirren des Krieges verloren gingen. Diese Liste wurde Anfang Juni bei den direkten Gesprächen zwischen einer russischen und einer ukrainischen Delegation in Istanbul von der ukrainischen Seite übergeben und auch veröffentlicht. 339 vermisste Kinder, das ist schlimm genug, – doch was ist mit den übrigen verschleppten Zigtausenden Kindern?

Damals, im Februar 2022, als die Meldung durch die Presse ging und von Politikerinnen wie Göring-Eckardt und Strack-Zimmermann mit besonderer Abscheu verstärkt wurde, war auch ich bewegt davon. Doch wenn ich mal durch die damit geweckten Emotionen hindurch denken konnte, tauchten bei mir Fragen auf: Wie kann das sein? Solche Massen von Kindern, wie geht das logistisch? Das macht doch auch für den Bösartigsten überhaupt keinen Sinn. Und jetzt sieht es so aus, dass es sich um ein aufgebauschtes Element der psychologischen Kriegsführung handelte, das weiterhin verwendet wird in der Bedrohungserzählung für die Aufrüstung und die Vorbereitung des nächsten Krieges.

Daniele Ganser, den viele von euch durch seine Bücher und die vielen, meist sehr empfehlenswerten YouTube Videos kennen, wurde in einem Interview einmal gefragt, wie er bei seinen Gesprächen mit Menschen von gegensätzlicher Meinung vorgehe. Er sagte, dass er oft zunächst dem Gegenüber zugibt: „Sie haben zum Teil recht“ – auch wenn es sich um weniger als 1% handelt, wie er schmunzelnd hinzufügte. Das würde die Verspannung lösen und eine sachliche Gesprächssituation erleichtern.

Bei dem stark emotional besetzten Thema der verschleppten Kinder finde ich den erwähnten Kommentar bei den Nachdenkseiten – die ich sonst sehr schätze – wenig hilfreich. Ich habe mich im Internet dazu umgesehen. Die Texte und Videos mit Berichten von Kindern, die Schreckliches erlebt haben, kann man nicht übergehen oder mit der Bemerkung des russischen Verhandlungsführers Wladimir Medinski relativieren, dass es zwar ein Problem um die Kinder gegeben habe. Es handelte sich jedoch um wenige Dutzend und um Maßnahmen zu ihrem Schutz.

Von den vielen Dateien im Internet zu diesem Thema scheint mir der Bericht vom 02.05.2023 von dem Menschenrechtsverteidiger Jewgenij Sacharow aus Charkiw auf der Seite von Amnesty International am glaubwürdigsten und am nächsten an dem zu sein, was in den Wirren der ersten Monate des Krieges mit Kindern passiert ist.

Sacharow geht in seinem Bericht von mehreren Tausend Kindern aus. Betroffen seien vor allem Kinder aus Heimen mit Waisen und Kinder, deren Eltern sich nicht um sie kümmern konnten. Im Frühjahr 2022 herrschte in den Gebieten, die dann von Russland besetzt wurden, bereits seit acht Jahren Bürgerkrieg mit Tausenden Toten. Das soziale Chaos ist leicht vorzustellen. Die Kinder wurden – oft über die Krim – nach Russland gebracht. „Gerettet“, wie der russische Verhandlungsführer jetzt in Istanbul behauptet, oder um sie zu russischen Staatsbürgern zu machen und sie in russischen Pflegefamilien unterzubringen oder adoptieren zu lassen, wie Sacharow sagt? Sacharow berichtet allerdings auch, dass einige Großmütter sich auf die Suche nach ihren Enkeln aufmachten. Sie belegten mit Dokumenten, dass sie die Großeltern sind. In diesen Fällen hat Russland die Kinder zurückgeschickt.

Bekannt ist auch, dass Putin am 30. Mai 2022 ein Dekret unterzeichnete, das Bürgern der Ukraine, vor allem natürlich den Bewohnern der sich selbstständig erklärten «Volksrepubliken» von Donezk und Luhansk erleichtert, die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Sacharow sagt, dass in diesem Dekret Kinder explizit erwähnt wurden, – und dass es dann weitere Verordnungen gab, die die Unterbringung von Kindern in russischen Pflegefamilien erleichtern sollten. Gleichzeitig startete man eine mediale Kampagne, um Adoptivfamilien für ukrainische Kinder zu finden.

Was immer tatsächlich geschah, mögen später Historiker herausfinden. Ich bin überzeugt, dass in diesem Krieg schlimmes Unrecht an Kindern begangen wurde. Jedes einzelne ist schlimm genug.

Und doch spielen meiner Ansicht nach die Zahlen weiterhin eine bedeutende Rolle. Sacharow erläutert: Im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wird Völkermord nicht nur als das Töten von Menschen definiert. Es ist auch ein Genozid, wenn man Kinder aus einer nationalen Gruppe herausnimmt und ihnen eine andere Umgebung und Ideologie aufzwingt. Daher hält er es für gut und richtig, dass der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag, Karim Khan, am 17.03.2023 einen Haftbefehl gegen Russlands Präsident Wladimir Putin und die russische Kinderbeauftragte Marija Lwowa-Belowa erwirkte.

Ich bin sicher, der Internationale Strafgerichtshof hätte die Haftbefehle nicht ausgestellt, wenn nicht die gesamte nicht-russische Welt unter dem Eindruck der riesigen Zahl von Zigtausenden oder Hunderttausenden verschleppten Kinder gestanden wäre. Das schlimme Schicksal vieler ukrainischer Kinder wurde missbraucht zu einem sehr erfolgreichen Propagandafeldzug mit weit übertriebenen Zahlen, ohne nachprüfbare Belege und sachliche Begründung. Das wirkt heute noch nach und verstärkt den Hass und unterstützt die Bedrohungserzählung als Grundlage der Kriegsvorbereitung.

Nur zwei Beispiele:

Bei Amnesty International wurde 2023 die Zahl der verschleppten Kinder offengelassen, natürlich immer noch viel zu viele. Doch auf der Amnesty International Seite von 2024, die bei Google zuerst erscheint, sind die Berichte ohne weitere Belege mit „Zehntausenden“ den „offiziellen“ Zahlen angepasst, unterlegt mit bewegenden Einzelschicksalen.

Terre des Hommes schreibt 2024, auch ohne Hinweis auf Belege, von 19.546 verschleppten Kindern, von denen 1.236 es wieder in die Heimat und zu den Familien zurückgeschafft haben. Ich staune, wie sie zu solch detaillierten Zahlen kommen. Ausführlich erwähnt Terre des Hommes eine Dokumentation eines therapeutischen Kunstprojektes mit 72 Kindern, das 2026 in die Kinos kommen soll. Dies bringt uns zu der Frage, wie gehen wir mit den Berichten von den verschleppten ukrainischen Kindern um? Wird z.B. dieser Film nächstes Jahr ein Aufruf sein, dass Krieg nach Gottes Willen nicht sein soll, und wir alles in unseren Möglichkeiten stehende tun müssen, um Kriege zu beenden und künftige Kriege zu verhindern? Oder wird das schlimme Schicksal der Kinder missbraucht, um weiter Hass zu säen und die maßlose Rüstungsorgie zu unterstützen?

Der Buchtitel von Albrecht Müller, dem Gründer der Nachdenkseiten und früheren Mitarbeiter von Willy Brandt, kann hilfreich sein: „Glaube wenig, hinterfrage alles, denke selbst“. Gerade im Hinblick auf die ungezählten Kinder, die im Ukrainekrieg Schlimmes erlebt haben, und den Kindern in den anderen Kriegen, sind unsere Forderungen, die wir letztes Jahr an die Kirchenleitenden der Landeskirche und an alle Pfarrer*innen unseres Kirchenbezirks geschickt haben und auf Bannern weiter vertreten, weiterhin gültig und wichtig:

„Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein!“

„Verhandlungen und Waffenruhe SOFORT!“

„Wir müssen nicht kriegstüchtig, sondern friedensfähig werden!“

„Atomwaffen und jede Art geächtete Waffen, wie Streumunition und Giftgas, sind Tabu und dürfen in keiner Weise in Betracht gezogen, produziert, gelagert, geduldet werden.“

„Die Investition gigantischer finanzieller Mittel in todbringende Rüstung verhindert die Wahrnehmung nationaler und internationaler sozialer Aufgaben, die Bekämpfung des Hungers in der Welt und die Eindämmung der Klimakatastrophe.“

Doris:

Wir werden jetzt  wieder 5 Minuten schweigen. Wir denken an die Opfer der Kriege in der Ukraine, im Nahen Osten, und an die Opfer der Kriege in anderen Ländern, die oft vergessen werden. An die Menschen, die im Krieg  verletzt wurden an Leib und Seele. An alle, die ihr Leben verloren haben, seien es Soldaten oder Zivilisten. An alle, die ihre Heimat verlassen mussten und auf der Flucht sind. An die geschundene Natur, an die zerstörte Kultur. An alle, die sich gegen den Krieg einsetzen. Mögen die Politiker auf allen Seiten endlich zur Vernunft kommen und eine weitere Eskalation verhindern.

Doris:

Ich lese heute wieder einmal das uns bekannte Gedicht von Bert Brecht:

Bitten der Kinder

Die Häuser sollen nicht brennen
Bomber soll man nicht kennen
Die Nacht soll für den Schlaf sein
Leben soll keine Straf´sein
Die Mütter sollen nicht weinen
Keiner soll töten Einen
Alle sollen was bauen
Da kann man allen trauen
Die Jungen sollen´s erreichen
Die Alten desgleichen.

Doris:

Ich möchte noch folgendes ansagen, bevor wir unsere Mahnwache beenden:

  • Morgen, am Samstag den 21. Juni, laden das Palästinakomitee Stuttgart und andere Gruppen um 13.30 Uhr auf dem Rotebühlplatz in Stuttgart zu einer Kundgebung ein. Sie wendet sich gegen den israelischen Krieg in Gaza und im Iran.
  • Am Mittwoch, den 25. Juni gibt es in der Manufaktur Schorndorf einen Vortrag mit dem Wirtschaftsexperten Dr. Wolfgang Kessler zum Thema: „Das Ende des billigen Wohlstands“. Mitveranstalter ist der Weltladen El Mundo.
  • Zahlreiche SPD- Mitglieder haben am 11. Juni ein Manifest für einen Wandel in der deutschen Außenpolitik herausgegeben. Sie fordern u.a. eine europäische diplomatische Initiative zur Beendigung des Ukraine-Kriegs, eine Rückkehr zur Entspannungspolitik mit Russland, einen neuen Anlauf für nukleare Abrüstung, und sie sprechen sich gegen die Stationierung neuer Mittelstreckenwaffen in Europa aus. Inzwischen gibt es eine Petition, um das Manifest zu unterstützen. Bereits über 14 000 Menschen haben unterzeichnet. Der Link dazu : https://www.openpetition.de/hdmbk. Man kann aber auch hier bei uns auf Papier unterschreiben.
  • Das „European Peace Project“, dessen Aufruf wir am 9. Mai vergelesen haben, hat einen neuen Rundbrief herausgegeben. Hier der Link
  • Wer sich morgen an unserer Friedensbanner- Aktion beteiligen kann, möge sich bitte nachher bei mir melden.
  • Unsere nächste Mahnwache findet am kommenden Freitag, den 27. Juni um 18.00 Uhr wieder hier auf dem Marktplatz statt.

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