Mahnwache vom 26.01.2024

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Es folgen die Beiträge dieser Mahnwache zum Nachlesen

Uwe:

Guten Abend, Ich begrüße Sie, ich begrüße euch im Namen der Friedensinitiative Schorndorf zu unserer heutigen Mahnwache gegen den Krieg und für den Frieden. Ingrid Bolay wird jetzt zu uns sprechen.

Ingrid Bolay:

Am 1.3. 2024 kommt die Liturgie zum weltweiten Weltgebetstag der Frauen aus Palästina – ausgearbeitet von den dort lebenden Christinnen, die etwa 2% der Bevölkerung ausmachen.

Der Weltgebetstag ist eine große ökumenische Bewegung, an der weltweit christliche Frauen die Anliegen der Frauen in den Mittelpunkt stellen, die die Liturgie ausgearbeitet haben.

Die Liturgie zu Palästina wurde bereits 2022 erstellt – also lange vor den Ereignissen des 7. Oktober. Sie wurde im Vorfeld verschiedenen Institutionen vorgelegt, die nichts zu bemängeln hatten, um den Verdacht des Antisemitismus von vornherein auszuschließen. Leider wurde die Liturgie nun vom deutschen Komitee überarbeitet, obwohl schon alles gedruckt war, was die palästinensischen Verantwortlichen sehr „erstaunt“ hat, haben sich doch die Probleme in Palästina eher verschlimmert. Solche Veränderungen wurden bisher noch nie vorgenommen. Es galt bisher, dass an den Liturgien nichts verändert werden darf. Nur in Deutschland wurde verändert und neu gedruckt. Der Druck war zu groß.

Es gibt weltweit 14,3 Millionen PalästinenserInnen, 5,35 Millionen leben im Staat Palästina, 1,7 Millionen im Staat Israel, 6, 4 Millionen in den arabischen Ländern, 1 Million in anderen Ländern.

Die Journalistin Alena Jabarine wurde in Hamburg geboren und lebt dort. Ihr Vater ist Palästinenser, ihre Mutter ist Deutsche. Sie veröffentlichte am 6. 12 2023 in der Süddeutschen Zeitung einen Artikel über ihre persönliche Betroffenheit, der sehr nachdenklich macht.

Alena Jabarine: „Ich möchte schreien, kann aber nicht.

Wenn ich meine Kufija trage, fühle ich mich verbunden mit meiner Familie. Mein Urgroßvater trug das Tuch als Schutz vor Wind und Sonne, wenn er auf unseren 70 Hektar Land nahe Nazareth seine Olivenbäume pflegte. Mein Großvater hingegen, einst Schulleiter eines Mädchengymnasiums in der größten palästinensischen Stadt in Israel, trug das Tuch nur zu feierlichen Anlässen, wie dem Land-Tag (Yom al-Ard), wenn palästinensische Bürger Israels kollektiv zu einem der während der Nabka entvölkerten Dörfer pilgern und ihrer Vertreibung gedenken.

Hier entstand das letzte Foto von ihm mit der Kufija, er saß zwischen seinen Enkeln auf einem Plastikstuhl und trug sie kombiniert mit einem beigefarbenen Anzug, Krawatte und goldener Uhr. Das Foto hängt heute in meinem Schlafzimmer.

Eine authentische Kufija zu erwerben, ist nicht einfach. In den Gassen der Altstadt Jerusalem hängen zwar zahllose Tücher neben I-Love-IDF-Shirts, Kippot und industriell gefertigten Keramikschüsseln. Doch sie kommen aus China. Die letzte traditionelle Kufija-Fabrik Palästinas heißt Herbawi und befindet sich in Hebron, im besetzten Westjordanland. Vor einem Jahr habe ich in der Fabrik gedreht und war beeindruckt von den uralten Webmaschinen. Beliebt sind vor allem aber Kufijas, die in palästinensischen Flüchtlingslagern in Syrien, Libanon und Jordanien handgestickt werden.

Während die Kufija in der gesamten Region von Kurdistan bis Jordanien in vielen Farben und Mustern getragen wird, erinnert das Stickmuster der palästinensischen Version an Fischernetze und Olivenblätter. Symbole und Referenzen, die die Beziehung der Menschen zu ihrer Umwelt symbolisieren: dem Mittelmeer und den Olivenhainen im heute besetzen Westjordanland. Ich habe eine solche Kufija. Ein Freund brachte sie mir vor vielen Jahren aus Jordanien mit. Sie ist groß und robust, bei Regen nutze ich sie als Kopfbedeckung, im Sommer legte ich mich mit ihr auf die Wiese.

In den unwirklichen Tagen nach dem Anschlag des 7. Oktobers, als es für mich weder Tag noch Nacht gab und ich im Dauerschock den Nachrichten folgte, bekam ich eines Morgens einen Anflug von Panik. Ich hörte, der Berliner Senat habe ein Schreiben an Schulen geschickt und mitgeteilt, das Tragen von Kufijas könne als Billigung der Angriffe gegen Israel oder Unterstützung der Hamas verstanden und deshalb verboten werden.

Weil manche die Kufija mit dem Terror vom 7. Oktober assoziieren, wurde das Tuch, das schon so lange vor der Gründung der Hamas existierte, das Teil der palästinensischen Identität  und damit auch meiner ist, nun vom Senat zu etwas Bösem und Bedrohlichen erklärt. Mir war, als würde mir die Luft genommen.

Dieses Gefühl verstärkte sich, als ich beobachtete, wie palästinensische Identität anscheinend Stück für Stück aus der deutschen Öffentlichkeit verbannt werden sollte. In meiner Heimatstadt Hamburg wurde Palästinensern per Allgemeinverfügung untersagt, ihre Trauer öffentlich zum Ausdruck zu bringen: Sogenannte propalästinensische Proteste würden die öffentliche Sicherheit gefährden. Denjenigen, die dennoch ihr demokratisches Grundrecht einforderten, wurde teils mit Einschüchterung begegnet. Videos zeigten Polizisten, die an einem Berliner Straßenrand aufgestellte Kerzen niedertraten. Kufija tragende Menschen wurden nach Personalien gefragt, wie eine Bekannte, Nadja, der mit der Konfiszierung ihres Tuches gedroht wurde. Es würde als politisches Symbol zu Gewalt aufstacheln.

In diesem Klima sollte ich auf der Frankfurter Buchmesse gemeinsam mit dem jüdisch-israelischen Professor Meron Mendel über die israelische Demokratie sprechen. Der Termin hatte lange vor dem Anschlag festgestanden, das Thema war kurzfristig angepasst worden, es sollte nun um Wege aus der Unversöhnlichkeit gehen. Wege aus der Unversöhnlichkeit.

Kurz zuvor war die Preisverleihung für die palästinensische Autorin Adania Shibli, die auf der Frankfurter Buchmesse eine Auszeichnung für ihren Roman „Eine Nebensache“ erhalten sollte, von den Veranstaltern auf einen unbestimmten Zeitpunkt nach der Messe verschoben worden. Ich haderte, entschied mich schließlich, zu fahren. Wollte als Palästinenserin Präsenz zeigen in einem Raum, in dem eine andere Palästinenserin zu diesem Zeitpunkt nicht willkommen war. Es war kein leichtes, aber ein gutes Gespräch, es gab mir Kraft.

Doch in den darauffolgenden Tagen verschärfte sich die Atmosphäre. Und während das zunächst scheinbar nur diejenigen betraf, die sich explizit politisch geäußert hatten, führte das Klima der Verunsicherung offenbar zu reflexhaft wirkenden Entscheidungen, auch in Kunst und Kultur: Die ARD nahm den preisgekrönten palästinensischen Film „Wajib“ aus dem Programm, mit der Begründung, er sei vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse alleinstehend nicht richtig platziert. Die Ausstellung des Berliner Fotografen Rafhael Malik zu muslimischem Leben in Berlin wurde von Pixelgrain abgesagt. Man wisse zwar, dass die Serie mit der aktuellen Situation nichts zu tun habe, teilte die Galerie mit. Um Konflikte zu vermeiden, wolle man eine einseitige Präsentation muslimischen Lebens ohne einen entsprechenden Gegenpol, etwa jüdisches Leben in Berlin, jedoch nicht zeigen. Ich möchte schreien, aber ich kann nicht.

Denn schon Sprechen ist seit dem 7. Oktober, seit dem Anschlag der Hamas, zu einem Drahtseilakt geworden. Bevor ich reden darf, muss ich mich durch Schichten über Schichten von Vorurteilen und Desinformationen arbeiten. Erst einmal beweisen, dass ich ein Mensch bin. Aber wie sollen wir dann reden? Wenn mir auferlegt wird, mich zunächst von grausamen Taten zu distanzieren – als gäbe es einen Grund zur Annahme, ich würde diese gutheißen? Und wenn es so wäre: Wie viel Wert hätte dann die von mir verlangte Distanzierung? Geht es um aufrichtige Empathie oder lediglich um Selbstpositionierung?

Es ist für mich als Journalistin erschütternd, wie oft grundlegende Prinzipien unseres Berufsstandes leiden, wenn in Talkshows oder Kolumnen über Israel und Palästina gesprochen wird. Sehr oft höre ich oberflächliches Instagram-Wissen oder die Talking-Points von Thinktanks heraus. Ich vermisse fundierte Analysen. Ich vermisse aber auch, dass betroffene Palästinenser nach ihrer Expertise gefragt werden. Das würde die Debatten in Deutschland nicht nur bereichern, sondern überhaupt erst komplettieren. Es ist grotesk, wie stattdessen über Menschen gesprochen, ihr Handeln, ihre Gefühlslage analysiert wird, ohne sie einzubeziehen. Warum ist das so? Vielleicht ist es die deutsche Misere: Selbst, wenn es um Solidarität gehen sollte, redet Deutschland eigentlich nur über sich selbst.

Ich schreibe diese Zeilen mit dem Wissen, dass sie bei einigen Menschen Unbehagen, Entrüstung oder Wut auslösen. Sie werden unbewusst oder bewusst missverstanden, aus dem Kontext gerissen, mit wertenden Kommentaren versehen auf Instagram gepostet oder an Arbeitgeber verschickt. Genau das ist die Atmosphäre, in der ich gerade funktioniere.

Und in der ich verzweifelt beobachte, wie Entscheidungsträger, die von Verantwortung sprechen, und deren Aufgabe es wäre, den gesellschaftlichen Frieden zu wahren, das Gegenteil bewirken. Vier Tage nach dem Anschlag verkündete der SPD-Außenpolitiker Michael Roth bei Lanz, dass es schreckliche Bilder geben werde. Es sei jetzt die Aufgabe, der Bevölkerung zu erklären, dass diese militärische Reaktion gegenüber den Terroristen nötig sei. Und er hatte Recht, die Bilder kamen. Aber was hatte Michael Roth da gesagt? Dass eine Bevölkerungsgruppe in Deutschland das jetzt einfach aushalten muss?  Bei Focus wurde das Ausspielen von Bevölkerungsgruppen gegeneinander gleich direkt angesprochen: „Die Juden oder die Agro-Araber: Wir müssen uns entscheiden, wen wir halten wollen.“

Werden wir aus dieser Spaltung je wieder herauskommen? Hoffnung machen mir Menschen, die miteinander, statt übereinander reden, die Solidarität zeigen. Wie die jüdischen Autorinnen und Autoren, die auf der Frankfurter Buchmesse bei einer spontanen Lesung des PEN Berlin aus dem Roman der nicht anwesenden Preisträgerin Adania Shibli lasen.  Integrität bewahren, Empathie zeigen. Der Preis für diese Werte ist in Deutschland dieser Tage hoch.

Jahrelang habe ich mich als Brücke verstanden. Als Kind einer Deutschen und eines Palästinensers, geprägt von der Geschichte des Holocaust – aus der Perspektive der deutschen Schuld – und der Geschichte der Nakba. Zwei Geschichten, die sich nie gegeneinander ausschlossen. Die miteinander verwoben waren, mich prägten. Zwei Geschichten, die zu mir gehören, die ich nicht abstreifen kann, selbst wenn ich wollte, selbst wenn das Voraussetzung wäre, weiter in Deutschland existieren zu können.

Heute war ich mit einer Freundin zum Essen verabredet, es nieselte und war kalt. Zum ersten Mal seit Monaten griff ich nach meiner Kufija, wollte, dass sie mir Sicherheit und Wärme spendet. Aber ich zögerte. Es dauerte Minuten, bis ich mich dazu durchringen konnte, mein Tuch zu tragen. Ich dachte: Wenn ich es jetzt nicht tue, vielleicht werde ich es dann nie wieder tun.“

Doris:

Wir werden jetzt wieder 5 Minuten schweigen. Wir denken an die Opfer der Kriege in der Ukraine, in Israel und im Gazastreifen, und an die Opfer der Kriege in anderen Ländern, die oft vergessen werden. An die Menschen, die im Krieg verletzt wurden an Leib und Seele. An alle, die ihr Leben verloren haben, seien es Soldaten oder Zivilisten. An alle, die ihre Heimat verlassen mussten und auf der Flucht sind. An die geschundene Natur, an die zerstörte Kultur. An alle, die sich gegen den Krieg einsetzen. Mögen die Politiker auf allen Seiten endlich zur Vernunft kommen und eine weitere Eskalation verhindern.

Doris:

Ich lese ein Zitat von Albert Camus. Helga Birkel hat uns einen Text mitgebracht, in dem dieses Zitat enthalten ist:

„Wir müssen das Zerrissene zusammenfügen, einer so offensichtlich ungerechten Welt die Vorstellung der Gerechtigkeit wiederbringen und den vom Unheil des Jahrhunderts vergifteten Völkern die Bedeutung des Glücks neu schenken. Es ist dies natürlich eine übermenschliche Aufgabe. Doch man nennt jene Aufgaben übermenschlich, die den Menschen lange Zeit kosten, sie zu erfüllen. Das ist alles.“

Doris:

Bevor wir unsere heutige Mahnwache beenden, möchte ich noch auf einige Termine hinweisen:

  • Als erstes möchte ich einen Termin nennen, der schon vorbei ist. Am vergangenen Montag, dem 22. Januar, vor genau 3 Jahren, ist der Atomwaffenverbotsvertrag in Kraft getreten. Die Organisation ICAN schreibt dazu: „Im Vergleich zu anderen Massenvernichtungswaffen ist das eine ziemlich kurze Zeit, denn Biowaffen sind bereits seit 1975 und Chemiewaffen seit 1997 verboten. Trotzdem ist in 3 Jahren schon viel passiert! Die ersten beiden Staatenkonferenzen in Wien und New York, an denen auch Deutschland und andere NATO-Staaten teilgenommen haben, zeigen, dass die Weltgemeinschaft fest hinter dem Verbot von Atomwaffen steht“.
  • Auch der 2. Termin liegt bereits hinter uns. Am vergangenen Mittwoch haben ca. 3000 Menschen vor der Künkelinhalle gegen die AfD demonstriert. Ein ermutigendes Zeichen. Wir wünschen uns natürlich, dass auch mehr Menschen für den Frieden auf die Straße gehen.
  • Morgen, am 27. Januar, ist in Deutschland der Tag zum Gedenken an die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Eberhard Abele wird dazu am Montag, 29.01. um 19.00 Uhr im Stadtmuseum einen Vortrag halten mit dem Thema: „Erinnern für die Zukunft“.
  • Am Dienstag, den 27. Februar veranstaltet die Manufaktur gemeinsam mit der Friedensinitiative Schorndorf einen Vortragsabend mit Jürgen Wagner von der Informationsstelle Militarisierung. Thema: „Im Rüstungswahn. Deutschlands Zeitenwende: Aufrüstung, Militarisierung und Sozialabbau“.
  • Unsere nächste Mahnwache ist heute in einer Woche, am Freitag, den 02.02., wieder hier vor dem Rathaus.

 

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